Thomas Heckendorn

Ein lyrisches Echo der Zeitläufte

In Basel 1952 geboren, in Schwyz 1971 maturus geworden und wiederum in Basel 1989 promoviert, mit einer Arbeit über Gottfried Keller, unterrichtete Thomas Heckendorn bis 2018 an der Kantonsschule Rychenberg in Winterthur. Seit 1978 publiziert er Lyrik und Kurzprosa, war Mitglied der „Gruppe Olten“ und ist es heute bei „AdS“. 2013 erhielt er für seine Lyrik den Carl-Heinrich-Ernst-Kunstpreis in Winterthur.

Schon der erste Gedichtband bezeichnet im Titel den Gegenstand der lyrischen Betrachtungen: „Uhren deiner Landschaft“ (1982). Die Spätzeit der zivilisierten Erde erhält eine lyrische Stimme. In dieser ersten Gedichtsammlung schwingen noch ein paar Hoffnungen mit. Aber: „Wir haben zweimal / Feuer und Eisen versorgt. / Nun leben wir gut / vom Schlachtopfer der /andern.“

Mit dem zweiten Lyrikband, „verworfen sind die grossen entwürfe“, veröffentlicht 1985 in Basel, edition Nachtmaschine, ist Heckendorn bereits zu einer melancholisch-desillusionierten Sicht des vernunftbegabten Lebewesens gelangt. Ein Jahr vor Tschernobyl schreibt er: „… es gibt eine Gegend / die heisst Abbruch“.

1992, während dem lautlosen Sterben der HIV-Schicksalsjahre, erscheint in Bottmingen (BL) „Auf der Ferse des Todes“. „Zwischen Mesopotamien und / deinen Lidschatten / flattern meine / Personalien“. Hinfälligkeit bedroht auch die zivilisatorischen Pläne: „Es fiebern in Türmen / die pendelnden Köpfe“.

Weitere lyrische Echos werden von der SchwarzHandPresse in Flaach herausgegeben. So 2005: „di da du rum“. Nach gescheiterten Referenden in zwei Gründer-Nationen der EU offenbart sich Europa als lahmer Tiger. „Du bist Europa / müde“ ist formal dem „Gesang Weylas“ von Mörike nachempfunden. Technologisch entwickelt sich ein völlig neuer Mobilfunkstandard; der „Mann auf der Halde “ betrachtet das Handy als wichtigsten Kommunikationspartner.

Zwischen Dotcom-Blase und Subprime-Krise registriert der Gedichtband „DE-LETHE.COM” (2006) sich anbahnende Tragödien „vor den spasshaften Inseln“ und beschreibt „den tödlichen/Schirm“ des Neostalinismus.

„VERSEVORDERSCHLACHT“ (2011) beschwört die Trauer einer kommenden, todsicher scheinenden Schlacht. „HEUTISTJEDERMANNSTAG. / ALLEWEGEFÜHRENNACHATOM“. Das Gedicht „HISTORIOGRAPHIEDERLAUTE“ ist eine Elegie des menschlichen Mitleidens.

2014, während Flüchtlingszüge mit dem Wunschgedanken „Wir schaffen das“ sich in Richtung Westeuropa bewegen, wird nochmals eine Gedichtsammlung bei der SchwarzHandPresse gedruckt: „Ein Zug fährt nach RIP“. Die Gedichte dieses Bandes bereiten auf neue Massstäbe des Sterbens vor.
„SPRUNGKÜNSTLERDERVORÜBERHUSCHT
BRINGTAUCHMICHZUMSCHWEIGEN
MITJENENDIELANDAUFLANDAB
INDIEGRÄSERBEISSEN“

2020 entstand in Warth, einem Dorf nahe der Kartause Ittingen, zeitgleich mit der aufkommenden Corona-Epidemie, ein neuer Verlag, der sich die lyrische Gattung zu Herzen nimmt. Als zweiten Gedichtband dieses neuen Verlages gibt die Verlegerin Irène Bourquin die aktuellste Lyrikpublikation von Thomas Heckendorn heraus: „DANKEUNDAUFWÜRDESEHN“. Darin lesen wir: „KRIEGIST.KRIEGIST. / WENODERWASWIRDERENTLEIBEN? / WERSINDDIETÄTER? / WASISTEINLEIB?“ Ins Lyrische übersetzt heisst die Zeitenwende „WINDJAHRE“ und die Pandemie-Bekämpfung: „ATEMWEGEZUWISCHEN“. Ahnungen und Tatsachen treffen sich in den auf den Band folgenden Jahren.

Thomas Heckendorn lebt im Zweistromland Flaach und sammelt in seinem 73. Lebensjahr die noch unveröffentlichte Kurzprosa.

Unveröffentlichter Text aus den Miniaturen von Thomas Heckendorn
Die Phligosophin

Wir standen im Kreis. Alle schwiegen und blickten in die Mitte des Kreises. Einige hatten verweinte Augen. Einige bewegten die Lippen zum unhörbaren Gebet. Die Meisten schienen fixiert auf eine feste Erwartung. Der Raum war für das Dutzend Leute mit der stummen Szenerie in deren Mitte etwas knapp. Er war mit Zirbenholz getäfelt und fast ohne Möbel. Der dunkelgrüne Kachelofen gegenüber dem Fenster wartete auf den kommenden Winter.

Die Menschen blieben still und wortlos. Irgendwoher erschien eine Fliege und setzte sich auf die Nase in der Mitte des Kreises. Bewegungslos sahen nun alle zu, wie die Fliege sich bewegte. Sie sprang auf die Stirn. Dann zurück auf die Nase. Sie blickte nachdenklich zum Fenster, das einen Spalt weit offen war. Sie wechselte die Blickrichtungen. Auf Ost-West folgte Nord-Süd. Eine Phligosophin, dachte ich. Schliesslich setzte sie sich auf das strahlend-weisse Leichenhemd und sah dem Toten ins Gesicht. Der Befund schien ihr klar, und sie begann sich zu putzen.

Tot, dachte ich, als plötzlich die Fliege zum Flug ansetzte und auf meiner eigenen Nase landete. Ein bisschen tot, dachte ich, und versuchte dem kitzelnden Ansatz standzuhalten. Niemand im Kreis der Trauernden wollte etwas bemerken. Die Fliege aber hatte ihre Mission erfüllt. Noch einmal flog sie in den geöffneten Sarg und dachte kurz nach: Non cogitat. Ergo non est. Dann verliess sie die Trauergemeinde durch das leicht geöffnete Fenster.