Nachruf Eva-Maria Berg

Dies Porträt, ein bescheidener Versuch, auf wenigen Seiten über den einzigartigen Schweizer Poeten Virgilio Masciadri (1963-2014) und seine Lyrik zu sprechen – in besonderer Wertschätzung, wie sie ihm von vielen Seiten entgegengebracht worden ist und auch mit meinem persönlichen Dank für eindrückliche Begegnungen.

Virgilio Masciadri ist Zeit seines zu kurzen Lebens aufs Intensivste dem Leben verbunden gewesen, während er seine Gedichte und Texte mit Leben erfüllt hat. „…und bevor noch der Tag / für immer sich niederwärts dreht / trinke dein Aug bis zur Wimper voll / und mach sie zu deiner die Welt.“

Er war Dichter, Krimischreiber, Literaturkritiker, Übersetzer und Verleger, Humanist und Wissenschaftler, hochbegabt und ungemein gebildet, der durch sein zurückhaltendes, freundliches Wesen, Luzidität wie auch Offenheit, Humor und Diskussionsfreude in Erscheinung getreten ist, doch nie durch spektakuläre Äußerungen oder Ereignisse. Menschen auf seinem Lebensweg waren beeindruckt von seinem sowohl scharfsinnigen, als auch tiefsinnigen Blick auf das Umfeld, und mit diesem Blick wandte er sich empathisch anderen Personen zu. Er hatte sich die großen staunenden Augen des Kindes bewahrt, bereit aufzunehmen, sowie ins Nachdenken zu versinken. In der ihm zu seiner Hommage gewidmeten Zeitschrift „orte“ N° 181, 2015 sind, neben einer repräsentativen Auswahl seiner Gedichte, Texte, Rezensionen, persönliche Erinnerungen seiner Weggefährten, Familie, Freunde, Lehrer, Kollegen zu finden. So berichtet die Mutter von Virgilio, dem mit Abstand Jüngsten ihrer drei Kinder, über dessen außergewöhnlichen Wissensdurst – als Neunjähriger las er „sämtliche 21 Bände der „Weltgeschichte“ – und seine frühe Leidenschaft für Literatur, zusätzlich geprägt von seiner Schwester Cornelia, die ihn bald auch im Rahmen ihres Übersetzer-Studiums mit begeisterte für literarische Übertragungen aus dem Italienischen und Französischen. Während ihrer Ausbildung zur Schauspielerin und Sängerin eiferte er seiner grossen Schwester nach und konnte bald zahlreiche ihrer Texte rezitieren. Die Libretti, die er als Musikliebhaber mit viel Freude und Sensibilität Jahre später für Musiktheater-Aufführungen geschrieben hat, in denen seine Schwester mitwirkte, erreichten über den Weg der Bühne selbst jene Menschen, die sich sonst nicht mit zeitgenössischer Lyrik befassten.

Bereits 1992 bei Veröffentlichung von „Heimatveränderung“ – seinem ersten von vier im orte-Verlag erschienenen Gedicht-Bänden  – erkannte Werner Bucher, der kritische, erfahrene Begründer des Verlages, die Fähigkeiten des jungen Lyrikers. Und sagte ihm eine wachsende Resonanz voraus.

Die Möglichkeiten dazu haben beide gemeinsam entwickelt in zunehmender Zusammenarbeit – als Redakteur wurde V.M. zur zweiten Hand des Herausgebers für „orte“, der namhaftesten Deutschschweizer Literaturzeitschrift“, sowie beim strengen Lektorieren der Gedichtbände in der Reihe „fund-orte“, ebenfalls zur Zusammenstellung der jährlichen „poesie agenda“. Als ihm schließlich 2013 die vertrauensvolle Aufgabe übertragen wurde, den Verlag zu leiten, ging für Virgilio Masciadri ein von Kindheit an gehegter Wunsch in Erfüllung. Laut biografischen Erinnerungen seiner Familie schrieb, malte, verschenkte er schon als kleiner Junge die mit Vorliebe selbstgebastelten Bücher. In der Poesie sah er immer seinen Lebensinhalt – wenngleich er seinen Lebensunterhalt zu bestreiten hatte durch lehrende Tätigkeit: Nach dem Studium der klassischen und mittellateinischen Philologie an der Universität Zürich unterrichtete er an Schulen Latein und Griechisch, zuletzt lehrte er als Privatdozent an der Universität Zürich, ein beliebter, inspirierender Lehrer. Zudem betätigte er sich, in ungewöhnlichem Ausmaß, in der Wissenschaftsforschung und -theorie. Und behielt doch immer seinen kritischen Blick gegenüber Bürokratie und Enge einer Professorenexistenz bei, so schon in seinem frühen Gedicht „Methodologie“: “Vielwissen ist nicht Weisheit / Wissenschaft ohne Bewusstsein / ist nichts als Verderb der Seele und das Herz / hat Gründe die der Verstand / nicht zu ergründen vermag“.

Virgilio Masciadri, vielseitiger Gelehrter, der an Neuerungen leidenschaftlich interessiert war, „auf höchstem Niveau promoviert“ und sich über antike griechische Mythologie habilitiert hatte, entwickelte für den orte-Verlag freudig und begeistert seine Ideen und Visionen. Dass ihm und dem Verlag die Umsetzung nicht vergönnt war, lag an der schweren Krankheit, die den Dichter trotz seines mutigen Dagegen-Angehens einholte, so dass er ein halbes Jahr später verstarb.

Bis zuletzt schrieb er insbesondere immer wieder Gedichte, nie anklagend oder larmoyant, sein Leiden blieb weitgehend ausgeklammert. In der Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, dem unausweichlichen Tod, richtete sich sein Blick auf die Intensität des Augenblicks, zur Wertschätzung des scheinbar Selbstverständlichen im unmittelbaren Umfeld, beispielsweise einzelner Blütenknospen – ohne dabei in ein „Blumen-Klischee“ zu verfallen. Auf ganz eigene, bewegende Weise gibt er mit wenigen und einfachen Worten und Bildern die Tiefe der Wahrnehmung wieder, im Wissen um deren bevorstehenden Verlust. Dennoch hoffnungsvoll das Adverb „trotzig“, – als eine gewöhnlich nur dem Menschen eigene Haltung – ans „erinnern“ der letzten Rosenknospen einfügend, um am Ende des Gedichtes solch Widerstehen auf das lyrische Ich – sich selbst sowie den Leser – zu übertragen „wie sie lass nicht ab / zu behaupten möglich / sei eine / wärmere Welt“. Poetisch ist die brennend rote Klangfarbe, die im Leser zurückbleibt.

Die Ahnung vom Lebensende macht nun, nach dem frühen Tod des Dichters von „Bilanz“ – an seine Freunde -, den Leser noch umso betroffener. Sie bezieht als Erfahrung jeden Menschen ein – durch das (alle verbindende) Possessivpronomen „uns“. „Langsamer fällt uns der Tag aus der Hand“, unaufgeregte und zunehmende  Ermüdungserscheinungen in Folge der Addition zahlloser Tätigkeiten, während der sogenannte, darin personifizierte „Feierabend“ mit geradezu zärtlicher Geste den Heimkehrenden an der Stirn berührt, um ihn zweifeln zu lassen an der Selbstverständlichkeit weiteren Fortbestehens.

Angesprochen sind hier Grundfragen des Autors, inmitten alltäglicher Wege und Gewohnheiten bewegen ihn immer wieder Zweifel und existentielle Fragen.

Die Gedichte von Virgilio Masciadri – in denen er sein Wissen als Philologe und Intellektueller weder unterdrückte, noch sie damit überfrachtete, so dass sie „in keiner Zeile ihre Frische und Spontaneität verlieren“ – vermögen oft auf den ersten Blick ein klares Bild abzulichten, Beobachtungen von Landschaften, Orten und Menschen, Situationen, die den Leser unmittelbar hineinnehmen. Bei genauem Betrachten findet er sich allerdings auf „doppeltem Boden“ wieder, da, wie Roman Bucheli hervorhebt, es dem Autor gelingt, „in der sprachlich hochpräzisen Zuwendung zum Sichtbaren dessen Kehrseite hervorzutreiben.“ Plötzlich kann eine tiefere Dimension, Infragestellung aufscheinen, z.B. „.dieses / wohlkarierte Wohneigentum / was not täte: ein See  / der noch niemand gehört.“

Ein Spannungsverhältnis ist es, das den Leser wiederholt aufhorchen, anhalten und nachdenken lässt. Dieses mag auch zusammenhängen mit der „doppelten“ Herkunft des Poeten – seinen norditalienischen Vorfahren und seiner starken Verbundenheit zum kleinen Dorf Blessagno oberhalb des Comersee, wo seine Familie von Steinmetzen und Bergbauern herstammt. Hier, im einfachen Bauernhaus, hätte er am liebsten nicht nur in Ferienzeiten, sondern auf Dauer gewohnt. Die Umgebung Blessagnos hielt er in zahlreichen Aquarellen fest. – Zugleich verwurzelt mit der Schweiz, aufgewachsen in Aarau, lehrend in Zürich und sich, wo immer möglich, literarisch, auch für seine Kollegen, engagierend. Er war ein Grenzgänger, der vertraute und ferne Orte neugierig und aufmerksam erkundete und früh schon sensibilisiert war für Sprachen, ihre vielfältigen Nuancen und beim Schreiben von Gedichten Absurdität und seinen eigenen poetischen Ton zum Ausdruck brachte. Aus den unterschiedlichen Perspektiven heraus mit der Fähigkeit zu feiner Ironie und durchaus spielerischen Wort-Bildern. In seinem Lyrikband „Das Lied vom knarrenden Parkett“14 rücken die Kinder mit der italienischen Nachbarin in deren Stube vor dem Bildschirm zusammen – das kleine, großartige Gedicht „Mondlandung“, in dem er schmunzelnd die „tapsigen Michelin-Männchen“ erinnert, gipfelt nicht etwa in der weltweit ersten Begehung des Erdtrabanten, sondern in der Erkenntnis, bereits als Kind:„was ist schon / die Weite des Weltalls gegen / den Abgrund zwischen zwei Sprachen.“

Ein anderer, für ihn ebenfalls wichtiger Sprach- und Kulturraum, bildet den Schwerpunkt seines Lyrikbandes „Wegen Marianne“. Angeregt durch seinen Paris-Aufenthalt als Stipendiat des Nationalfonds für ein Forschungs-Projekt zur antiken Mythologie. Und es finden sich – zwischen seinen beiden Gedicht-Bänden „Gespräche zu Fuss“ und „Das Lied vom knarrenden Parkett“ – auch hierin Bewegung und fotografisch-filmische Momentaufnahmen vom Unterwegssein – diesmal in der Großstadt-Landschaft. „…draußen / lockte ein noch / fremderes Land als der Frühling“ („Un beau matin“) weitläufige Kreuzungen, Nachdenklichkeit in Museen, der Literatentreff „Café de Flore“, dessen Nimbus er (bzw. „du / ich“ – in den meisten dieser Gedichte für das lyrische Ich stehend) verblasst sieht, ein Gefühl von Verlorenheit „dieser Abend hängt so in Fetzen und schräg“ („Salonmusik“), dann wieder der stille Raum, aus dem er zum Fenster hinausschaut – zu wechselndem Himmel, charakteristischen Schornsteinen, hohen Fassaden „…/ zwei Jahre lang / nichts gesehen / der Blick jetzt / schärfer in kälterer Luft“ (“Le printemps au périph“).

Gegen Ende des Bandes  – nach deutschen und französischen Gedichttiteln – ist eines auf Italienisch überschrieben: „Partenza“, im Aufbruch wird die Einsamkeit beengend deutlich: „bis ans Ende von Gleis drei begleitet dich niemand mehr“ – wäre da nicht das neue Taschenbuch von Seamus Heaney, das der Reisende mit sich trägt, in das er sich hinein begibt, für alle unsichtbar, in die von ihm zitierten Zeilen „poetry, say, or fishing“, die von der Absolutheit des poetischen Tuns sprechen. – Und der Dichter Virgilio Masciadri setzte seine unermüdliche Suche nach Poesie fort und „lebte die Zuversicht, dass Belletristik den Menschen verfeinert“.

Er konnte das Erscheinen seines deutsch-italienischen Lyrikbands „Né inizio né fine“, über den er sich besonders gefreut hätte, nicht mehr erleben. Die Gedichte sind kürzer und konzentrierter geworden, spürbar sein tiefer Bezug zur Gegend und die Achtung vor den Menschen, auch jenen, denen keine Bildung zuteilwurde. „Prognose“ stellt fortschrittliche Wettervorhersagen auf den Kopf; auch wenn der Winter vorbei ist, der Dorfnarr hat jedenfalls das richtige Gespür: „Morgen schneit es / schreit / der Irre…“ und „…am nächsten / Morgen lag Schnee.“

In seinem Libretto zu „Roberts Luftschiff“ (Musiktheater mit Liedern von Clara und Robert Schumann) sagte Virgilio Masciadri als Sprecher: „So sterb ich gern vor dem Angesicht der Berge und der Sonne“. Im Nachhinein hat dieser Satz ein besonderes Gewicht. Nach seinem Tod in Aarau ist Virgilio Masciadri an seiner Lieblingsstätte, in Blessagno, bestattet worden. Um ihn breitet sich die große und feinsinnige poetische Landschaft aus, die er entworfen hat und sie wird Bestand haben.

Eva-Maria Berg ist Schriftstellerin und Dichterin und lebt in Deutschland. Einer ihrer Gedichtbände wurde von Virgilio Masciadri bei „orte“ herausgegeben.