Leonardo Tonini

Leonardo Tonini kam 1974 in Castiglione delle Stiviere zur Welt. Als Dichter, Herausgeber und Kulturschaffender publizierte er Kurzgeschichten und Gedichte und schrieb und u.a. über Ungaretti, Deleuze, Pinter, Spinoza und Sloterdijk. Er ist Mitbegründer des «Movimento Sannixista» und Leiter des Verlagshauses Gattogrigio. Im Jahr 2015 wurde er mit dem Literaturpreis Premio Masciadri (Aarau, CH) für seine Verdienste in der Kulturförderung ausgezeichnet. Im Jahr 2019 wurde eines seiner Gedichte vom italienischen Komponisten Stefano Ghisleri vertont und in Stockholm im Rahmen der «Woche der italienischen Sprache» uraufgeführt. Im Jahr 2020 veröffentlichte er den Gedichtband «Tutto il resto resta» (Controluna). Er schreibt für mehrere Lyrik- und Filmzeitschriften. Seine Artikel und seine Gedichte wurden ins Griechische, Deutsche und Schwedische übersetzt.

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Siriana

Nadia und ich besuchten Syrien im Spätsommer 2010. Es war eine ausserordentlich schöne Reise. Weder wir noch sonst jemand hatte eine Ahnung vom Krieg, der bald ausbrechen würde. Als sich die Situation zuspitzte, waren wir über die Bilder in den Nachrichten bestürzt. Das Syrien, über das berichtet wurde, war nicht unser Syrien – jenes, das wir vor Augen hatten und das wir für immer in unseren Herzen tragen.

1
ich werde bleiben so lange wie nötig

bis du mir nicht sagen wirst: die Arbeit ist getan.

also hob ich die Augen und sah
die Gegenwart den Horizont einnehmen,
vor und hinter und über mir.

ich kann nicht lesen: antwortete Mohammed

es gibt ein Fasten des Körpers und
ein Fasten des Geistes von allen unreinen Gedanken;
beim dritten Fasten enthält man sich
der irdischen Sorgen.

2
du hast im Euphrat gebadet

um dir selbst etwas zu beweisen
ungeachtet der dreckigen Windeln
und meiner und Mahmuds, beide auf dem Trockenen regungslos
es berührte dich nicht die endlose Drift
der Abschweifungen und die durchquerte
Kalkspatwüste und der schwebende Raub-
Vogel, der mit seinem Auge des Rausches
uns begehrte von oberhalb einer Düne
aus Steinen; nein, im Euphrat suchtest du
einzig Offenbarung und Lauterkeit
gehindert wie du warst durch das Gewand

3
auf allen Fotografien, jede Sache

erinnert uns an etwas. unsere Reise
die nur noch Vorhang ist: bringt zum Lachen
das Kind. sie versuchten uns
zu sabotieren: Bilder legen sich über
Bilder: im Palimpsest
die Dummheit der Gattung, und Blut
durchrinnt das Massaker. von vielem ist nicht viel
geblieben: von anderem, noch weniger.

4
Rasafa

vielleicht ich weiß es nicht tun sie gut daran
alles zu zerstören
auszulöschen die Erinnerung
an die Hethiter Seleukiden und Römer
zu groß ist die Entfernung die uns trennt
von diesen Steinen Weiden
von Wolken und Ziegen
die Dichter derweil die Getäuschten
versuchen die Sprache der Vögel
zu übersetzen
aber du in Rasafa hast verstanden
dass dir keiner Antwort gibt

5
kein einziges Indiz: wie

nachts die Wirbel. plötzlich
der Schotter auf der Straße,
das abgenutzte Wort:
Leben: als sagte man alles oder
nichts, oder Weltanschauung. zwischen
Atemzügen und dem was folgt. sie haben
in deinem Zimmer Licht gemacht.

6
in Hama gab es große Räder

aus Holz, sie schöpften aus dem Orontes Wasser
für die Stadt, wie im Mittelalter
sagte der Fremdenführer; die Jungen stiegen auf
und ließen sich hinauftragen und warfen sich
von dort im Sturzflug hinab, streiften
die Schaufeln und die Wirbel, auch mein Herz
war bei ihnen und es war jedes Mal ein Sprung.

ihr Alten, unser Schicksal ist Scheitern
und nicht, das Licht der Dinge zu sehen
doch sie sind schön, eure altertümlichen Gesichter
an diesem Abend, schön seid ihr,
lächelnd obwohl ihr den Tod kennt.

Anmerkungen
1 ich werde bleiben so lange wie nötig
– Lektüre des Korans und eines Essays über den Islam. Fast Notizen, ich habe sie als Incipit gesetzt. Die Dichtkunst erfordert drei Arten des Fastens, um verstanden zu werden. Mohammeds Vision erinnerte mich an die meinige, die mich dazu bewog, diese Gedichte zu schreiben, aber meine war keine Vision im engeren Sinne, auch nicht religiöser Art, sondern eher ein Moment des Bewusstseins der Welt, der Realität der Welt oder eines Gottes im spinozaischen Sinn.

2 du hast im Euphrat gebadet – Nadia konnte dem Euphrat nicht widerstehen und sprang ins Wasser. Sie hätte sich auch ausgezogen, aber die spießbürgerliche Moral der modernen Muslime (dies war nicht immer so, ganz im Gegenteil!) erlaubte es ihr nicht.

3 auf allen Fotografien, jede Sache – Zurück zuhause hatte Nadia Fotos von der Syrienreise drucken lassen und damit ein Poster gestaltet, das ironischerweise wie ein Vorhang aussah. Erinnerungen an ein wunderschönes Land, nun beschmutzt durch die Absurdität des andauernden Gemetzels.

4 Rasafa – Das antike Sergiopolis, mitten in der syrischen Wüste, erschien wie eine Vision. Die gesamte Stadt, heute nur noch eine majestätische Ruine, besteht aus Kalzit, der das Sonnenlicht reflektiert.

5 kein einziges Indiz: wie – Das Video eines nächtlichen Überfalls von Marines auf das Haus eines Verdächtigen hat mich tagelang erschüttert. Es waren nur Frauen und Kinder im Haus, die im Video vor Angst schreien und weinen. Ein ganz gewöhnliches Haus, mit Bildern an den Wänden, Kinderspielzeug, einem Fernseher.

6 in Hama gab es große Räder – Die Schöpfräder römischen Ursprungs in Hama haben einen Durchmesser von bis zu 18 Metern, eines der beeindruckendsten Zeugnisse aus der Antike, die heute noch zu sehen sind. die Jungen ließen sich von den riesigen Schaufeln der Schöpfräder, die immer noch in Gebrauch sind, in die Höhe heben und von dort sprangen sie ins Wasser des Orontes.

7 ihr Alten, unser Schicksal ist Scheitern – In Tadmor, einer Ortschaft in der Nähe der großen Ruinen von Palmyra, lächelten alte Männer die Touristen an oder belächelten diese.
Übersetzung von Lino Sibillano

Lino Sibillano – sieht sich in seinem Tun als Grenzgänger und Brückenbauer – schreibend, übersetzend, vermittelnd. Zurzeit schreibt er in Lyrik und Prosa zum Themenkreis Migration, Identität und Zugehörigkeit.

Leonardo Tonini