Nachruf Barbara Traber

Nachruf von Barbara Traber, Schweizer Schriftstellerin und ehemaliges Mitglied der Redaktion der Schweizer Literaturzeitschrift «orte»

Der Milchstrasse nachlaufen bis ans Ende der Welt

Zum Tod von Virgilio Masciadri (23.11.1963–8.5.2014)

Im Juni 1993 taucht Virgilio Masciadris Name erstmals im Impressum des orte-Heftes 84 auf, das der „Poesia dall’Italia del Nord 1960–1990“ gewidmet ist. Es enthält zahlreiche italienische Gedichte, „übersetzt von der orte-Redaktion“, sprich von Masciadri! Bei über 90 (!) orte-Nummern hat er mitgewirkt, mindestens 400 Stunden an Redaktionssitzungen in der „Weinstube“ am Central in Zürich verbracht, Protokolle, Editorials, Einführungen, fund– und zünd-orte und Rezensionen verfasst; dazu kommen Jury-Arbeit, Literaturfestivals und sein immenser Einsatz für den orte-Verlag.

Als die orte-Redaktion 2006 in einem „Heimspiel“ (orte 146) ein literarisches Streitgespräch führte, eröffnete Virgilio Masciadri die Diskussion mit einem Zitat von Joseph Brodsky, in dem steht, Literatur, als moralische Rückversicherung, sei zuverlässiger als ein Glaubenssystem oder eine philosophische Doktrin. Virgilio schrieb dazu: „Literatur machen ist keine Wissenschaft, die man studieren kann – was es wirklich heisst, erfährt man mit der Zeit und indem man’s tut.“

Das sagte ausgerechnet ein Intellektueller, der uns haushoch überlegen war, uns dies jedoch nie spüren liess! Virgilio Masciadri wurde 1963 in Aarau (Schweiz) geboren, studierte in Zürich und Paris, habilitierte über antike Mythologie und lehrte an der Universität Zürich Klassische Philologie und Religionsgeschichte. Doch er stellte die akademische Laufbahn an die zweite Stelle und setzte sich mit Begeisterung und Herzblut ein für die Literatur, seine eigentliche Berufung, und die Menschen, die dahinter stehen.

Nach seinem allzu frühen Tod am 8. Mai 2014 erschrecken wir über die immense Lücke, die er hinterlassen hat. „Etwas wie absolute Präsenz“ betitelte Ueli Schenker sein Kurzporträt über Virgilio Masciadri (orte 146). Er war ganz da, immer, konzentriert, klug, aber gleichzeitig ein verspielter Poet – und so sehen wir ihn am Tisch im „Limmathöfli“ sitzen: als unaufdringlichen Mittelpunkt, besonnen, genau, ironisch und scherzhaft, manchmal weise, oft fröhlich-übermütig lachend. Eloquent brachte er die schwierigsten Themen auf einen gemeinsamen Nenner, und erbittertste Auseinandersetzungen von Heissköpfen in der Runde endeten friedlich. Er versprühte italianità, Charme, Eleganz und Heiterkeit und besass eine an Sanftmut grenzende Geduld und diplomatisches Geschick im Umgang mit schwierigsten Leuten (sprich Dichtern).

Legendär ist die orte-Nummer 88 (1994) über eine angeblich mexikanische Dichterin namens Mengia Rauch („Sie allein kennt den Trampelpfad“) – reine Erfindung der orte-Redaktion? Ein köstlicher literaturwissenschaftlicher Kommentar von Vicente Rodriguez Miròn (1984) steht darin.

Seine Begabungen setzte Virgilio wie selbstverständlich und mit natürlicher Autorität ein: als engagierter Macher im orte-Verlag, bei der Zeitschrift und bei SWIPS (Swiss Independant Publishers), als nie verletzender Lektor (und Lehrer), als hervorragender Übersetzer, Herausgeber, Kritiker, Begutachter, Organisator von literarischen Anlässen, Moderator und Förderer … Er war stets zuverlässig in allem und irgendwie alterslos, Kollege und Freund, Bruder, Sohn(ersatz) oder Begleiter an literarischen Spaziergängen von der Rütegg nach Wald. An Buchmessen und an den Solothurner Literaturtagen betreute er den orte-Stand, schleppte Bücher, machte die Abrechnungen …

Seine ihm eigene Sensibilität und Intensität, seine Beherrschung des Formalen und seine Vorliebe für die Provinz Como (wo er herkommt) wie für das Frankophile zeigen sich deutlich in seiner Lyrik: in „Heimatveränderung“ (Zeitzünder 6, 1992), den drei fund-orten „Gespräche zu Fuss“ (1998), „Wegen Marianne“ (2002) und „Das Lied vom knarrenden Parkett“ (2010) – alle noch greifbar. Eine Art Vermächtnis.

Sein erster orte-krimi kam 2003 heraus, „Schnitzeljagd in Monastero“. Süffig geschrieben und hochliterarisch, ein Juwel, aber völlig anders als die üblichen action-Krimis. Surrealistisches, Fantastisches und Historisches finden darin Platz, und der junge Ich-Erzähler Massimo muss herausfinden, von wem die Haikus stammen, die überall auftauchen. Der Autor doppelte 2009 nach mit dem orte-Krimi „Dämonen im Murimoos“, in dem er seine Erfahrungen als Lehrer einbrachte. Er nahm das Genre Kriminalroman durchaus ernst: „Er ist eine Grundform der Literatur überhaupt und nicht weniger altehrwürdig als die grosse Tragödie.“

Ein Erlebnis wurde orte Nr. 149: „Roberts Luftschiff. Musiktheater zu Robert Schumann“, zu dem Virgilio Masciadri das Libretto schrieb und das als Programmheft diente. In Zusammenarbeit mit der Musikerin Anna Merz entstanden weitere poetische Libretti.

2013 gab Karl Bernhard den Band „Zürcher Mercuriositäten. Wie Merkur die Limmatstadt beflügelt“ (Orell Füssli) heraus, in dem wir die wissenschaftliche Seite unseres Freundes in seinem brillanten Beitrag „Hermes. Ein vielgestaltiger Gott der Antike“ kennen lernten.

Am liebsten möchte man den Mantel des Schweigens über die letzten Lebensjahre von Virgilio Masciadri legen. Mit bewundernswerter Tapferkeit, mit Mut und Klarsicht hat er sich Krankheit, Schmerz und Leid gestellt. Wir haben mit ihm gebangt und gehofft. Und so wünschte man sich – zu unserem Trost –, Hermes mit den Flügelschuhen habe Virgilio, diesen feinen Menschen, ins Jenseits hinübergeleitet, vielleicht in Roberts Luftschiff aus der Geschichte des Luftschiffers Giannozzo von Jean Paul.  – Wir werden versuchen, in seinem Sinn weiterzumachen.